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Nachrufe seines Nachfolgers und ehemaliger Kantoreisänger

Domkantor i.R. Herbert Hildebrandt (1935-2019)

An Heiligabend 2019 ist unser ehemaliger Domkantor Herbert Hildebrandt im Alter von 84 Jahren gestorben. Mit dem Bau der Mauer 1961 gründete Hildebrandt die Berliner Domkantorei, die er 42 Jahre lang leitete. Anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens wurde ihm 2011 das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

In ihrem Nachruf erinnern zwei seiner Sänger und sein Nachfolger an diesen außergewöhnlichen Menschen:

Gilbert Furian, ehemaliges Chormitglied
„Herbert Hildebrandt trat 1971 in mein Leben. Ich suchte eine neue sängerische Heimat und eine Gegenwelt zum DDR-Alltag – beides bot seine Berliner Domkantorei. In der Musik war ich gleich zuhause, auch wenn der Domkantor an die meisten Stücke erst theologisch heranging, und dann musikalisch. Wir mussten lange warten, bis das Verdi-Requiem aufgeführt wurde, es war ihm zu weltlich. Seine Frömmigkeit hat er dem Chor nie aufgenötigt – so war die Andacht, die es anfangs vor jeder Probe gab, nur den Frommen vorbehalten. Er ließ den Chor einüben, was es in der DDR nicht gab: Demokratie. Es wurde ein „Vertrauenskreis“ gewählt; dass dieser oft Marginalien zu regeln hatte, fand ich in Ordnung. Chorsingen ist nun einmal Diktatur! Und Herbert Hildebrandt war ein lebhafter und humorvoller „Diktator“.

Es ist zum großen Teil sein Verdienst, dass die Nische Domkantorei mein heimlicher Lebensmittelpunkt war. In Bobbin auf Rügen initiierte er eine Unternehmung, die zu DDR-Zeiten nur als mission impossible gelten konnte: den Ausbau einer Küsterhaus-Ruine zum Chor-Schulungsheim. Er hatte eben nie nur gute Musik, sondern immer auch die Gemeinschaft der Chormitglieder im Blick. So hat er mich 1986 nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis Bachs h-Moll-Messe mitsingen lassen, obwohl ich nicht die nötigen Proben aufweisen konnte.

Die Beschränkungen, die einem Kirchenchor in der DDR auferlegt wurden, hat er nicht bejammert, sondern umgemünzt in Lust am Provisorium. Weil Plakatierung verboten war, baute er einen Hörerkreis auf, der mehrere tausend Adressen umfasste und mit Hilfe einer primitiven Adressiermaschine per Post mit Einladungen versorgt wurde. Er verband kindliche Naivität mit Beharrlichkeit und Improvisierfreude mit Demut. Damit und mit seinem etwas linkischen Charme hat er sicher nicht nur mich bezaubert.“

Domkantor Tobias Brommann, sein Nachfolger
„In einer Zeit, die von gewaltsamer Trennung und Verunsicherung geprägt war, hat Herbert Hildebrandt mit der Berliner Domkantorei etwas menschlich und musikalisch Verbindendes geschaffen. Ich freue mich, dieses Vermächtnis weiterführen zu dürfen.

Unser Verhältnis war von gegenseitiger Hochachtung geprägt, wobei er trotzdem klare, durchaus kantige Vorstellungen haben konnte. Er stand bei Bedarf zur Seite, ohne sich jemals aufzudrängen.
Dabei ist bei allen Neuerungen, die ein Leitungswechsel mit sich bringt, vieles weiterhin erlebbar: Chormitglieder, die bereits unter ihm gesungen haben, Traditionen, die immer noch gepflegt werden, und ganz besonders: die von Hildebrandt angelegte Notenbibliothek. In einer Zeit, in der Noten nahezu unmöglich zu beschaffen waren, hat Hildebrandt mit Abschriften auf Ormig-Matrizen - incl. handgezogener Notenlinien! - Chorkompositionen z. B. aus dem Bestand der Staatsbibliothek aufführbar gemacht. Damit hat er etwas Einmaliges geschaffen. In diesem Bestand gibt es Ausgaben, die noch nirgends verlegt wurden. Und es zeigt, mit welch liebevoller Akribie sich Hildebrandt für „seine“ Domkantorei eingesetzt hat. Das Bundesverdienstkreuz am Bande, dass ihm 2011 verliehen wurde, würdigte seinen Einsatz unter widrigsten Umständen für eine Institution, die heute einen festen Platz im Kulturleben hat.“

Michael Klein, ehemaliger Sänger der Berliner Domkantorei
Kantor Herbert Hildebrandt stand auf den schmucklosen Türschild an der früheren Wohnung in der Schönhauser Allee. Kantor – als Beruf und aus Berufung, das entsprach lebenslang seinem Selbstverständnis. Mit Gesang und Instrumenten musizieren, allein zu Gottes Ehre, nicht zur Selbstverwirklichung oder gar Selbstdarstellung. Geräuschvoller Beifall daher überflüssig und unerwünscht.
Unmittelbar nach dem Mauerbau vertrat er am die Domorganistin, die vorübergehend nicht mehr aus Westberlin einreisen durfte.

Diesem Umstand verdankt die Berliner Domkantorei ihren Namen und ihre Verbindung mit dem Berliner Dom. „Heimatlos“ gewordene Ostberliner Sängerinnen und Sänger versammelte er zu einer ersten Probe am 16.10.1961 im Jugendraum des weitgehend zerstörten Domes. 42 Jahre lang war er ihr zunächst nebenamtlicher und ab 1983 hauptamtlicher Leiter.

Ein Vertreter schmeichelhafter oder salbungsvoller Rede war der gebürtige Ostpreuße nie. Bei der Probenarbeit war er unerbittlich anspruchsvoll. Deutlicher Kritik nahm er jedoch häufig mit seinen unnachahmlich launigen Formulierungen die Schärfe. „Schauen Sie doch nur einmal zu mir, liebe Soprane! Das macht mich nicht verlegen, ich bin beruflich hier.“

Die Berliner Domkantorei war von Beginn an ein übergemeindlicher, überkonfessioneller und auch sonst in vieler Hinsicht sehr „nicht alltäglicher“ Kirchenchor.
Große kirchenmusikalische Werke auf hohem Niveau zu erarbeiten und aufzuführen, war das Eine. Die regelmäßige musikalische Gestaltung von Gottesdiensten, Singen in kleinen Kirchen im Berliner Umland, in Krankenhäusern und Altersheimen waren mindestens ebenso wichtig. Vor Konzerten mussten bedarfsweise Stühle gereinigt und aufgestellt und Podeste montiert werden. Wer im Chor bleiben wollte, musste bei allem mittun. Wochenendfreizeiten und Chorfahrten stärkten die Gemeinschaft zusätzlich. Für viele Chormitglieder wurde die Domkantorei so zu einem unverzichtbaren Freiraum als Gegenentwurf zu dem häufig tristen und verlogenen sozialistischen Alltag der DDR.

Herbert Hildebrandt war ein besonnener Mensch; aber er ging bei Notwendigkeit durchaus Risiken ein.
Eigene Telemann-Festtage der Domkantorei unter Missachtung des staatlichen Gedenkmonopols führten 1967 zum Verbot von Plakatwerbungen und Verkauf von Eintrittskarten für Konzerte. An einen rasch wachsenden Hörerkreis wurden postalisch Einladungen versandt. Eine in der Höhe nicht kalkulierbare Kollekte musste nun die Kosten für Solisten und Orchester decken.
War dies schon kühn, musste man den späteren Bau eines eigenen Chorheimes in Bobbin (Rügen), schon tollkühn nennen.
Sein mutiges Gottvertrauen war, wie sich erwies, in keinem Fall auf Sand gebaut.

Der Chor sollte dem Herrn nicht nur die bekannten, sondern eben immer wieder neue Lieder singen. Gedruckte Noten waren rar und teuer. So entstanden in kaum vorstellbare Fleißarbeit Tausende von Notenblättern als sog. Ormig-Kopien, deren Matrizen er in seiner fast kalligrafischen Hand- und Notenschrift beschrieben hatte. Das Spektrum reichte von kurzen Choralsätzen auf Einzelblättern bis hin zu Partituren mehrchöriger Werke, die er in der Staatsbibliothek abgeschrieben hatte. Besonders geschätzt unter den letzteren wird vom Chor die 16-stimmige Missa solemnis von Eduard Grell.
Diese Blätter waren gleichzeitig der Grundstock zu der Notenbibliothek der Berliner Domkantorei, die er bis zuletzt betreute. Sie umfasst derzeit mehr als 10.000 Titel und ist mittlerweile in akribischer Weise für den gottesdienstlichen Gebrauch nach zahlreichen Suchkriterien auch digital katalogisiert.

Die herben, schlichten und dennoch kunstvollen Kompositionen zum Genfer Psalter waren ihm besonders ans Herz gewachsen und er hat sie über Jahrzehnte aufgespürt und gesammelt. 2003, in seinem letzten Dienstjahr, erschien eine Doppel-CD mit dieser Musik, gesungen von der Domkantorei.

Er begnügte sich aber nicht mit dem Abschreiben fremder Kompositionen, sondern hinterlässt auch ein umfängliches Erbe von eigenen Chorsätzen. „Ich bin kein richtiger Komponist!“, pflegte er abzuwehren. „Ein richtiger Komponist wacht nachts von einem musikalischen Einfall auf und hält diesen notfalls mit einem Bleistiftstummel auf Klopapier fest – das tue ich nicht.“
Aber kirchenmusikalische „Gebrauchsmusik“ im besten Sinne sind seine Schöpfungen allemal. So erwuchs neben anderem aus anfänglich einzelnen und für den aktuellen Bedarf geschriebenen Bearbeitungen letztlich ein zweibändiges Werk mit Chorsätzen zu allen Liedern des damaligen Evangelischen Kirchengesangbuches.

Sein Wirken insgesamt gründete sich auf einen tiefen Glauben, den er nicht proklamierte, sondern uns erkennbar im Alltag vorlebte.  

Noch sind wir durch seinen plötzlichen Tod traurig und betroffen. Schon jetzt aber überwiegt die Dankbarkeit für die wundervollen Gaben, mit denen er unser Leben bereichert hat.

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