Trauerrede auf Herbert Hildebrandt
Chorsingen ist nicht so ganz von dieser Welt
Trauerrede von Heiko Lehmann, gehalten am 18.1.2020 bei der Trauerfeier im Berliner Dom.
Chorsingen ist nicht so ganz von dieser Welt
Menschen mit unterschiedlichen Stimmen, mit unterschiedlicher Musikalität, mit unterschiedlicher Religiosität, überhaupt ganz unterschiedlich, singen gemeinsam und erzeugen zusammen etwas, was alleine keiner kann. Die Erfahrung, dass das funktioniert, ändert diese Menschen, manchmal fürs Leben. Aber es braucht jemanden, der das gemeinschaftliche Musizieren zusammenbindet. Das ist eine ganz spezielle Rolle: Sie führt diese unterschiedlichen Menschen zusammen, sie muss auf eine Idee hinabeiten, sie muss mit der Spannung zwischen vorgestelltem Ideal und erlebter Imperfektion klarkommen. „Sehen Sie mich ruhig an, ich bin nicht schüchtern!“ – an diesem Zitat von Herbert Hildebrandt kann man vielleicht schon ein wenig ablesen, in welcher ganz unverwechselbaren Weise er die Rolle des Chorleiters über vier Jahrzehnte in der Domkantorei ausgefüllt hat. Einen uneitleren Menschen kann man sich schlicht nicht vorstellen, aber wenn es um die Musik ging, gab es keine Kompromisse: Ihr müsst jetzt zu mir gucken, um den Rhythmus richtig abzunehmen, sonst klappt das hier alles nicht.
So entstand das einmalige Biotop „Domkantorei“. Bei der ersten Probe – das war zwei Monate nach dem Mauerbau, der junge Kantor war 26 Jahre alt, sangen die anwesenden Sänger „Nun danket alle Gott!“. Ist das nicht paradox? Sich frisch eingemauert bedanken? Nein, das ist überhaupt nicht paradox: Den Menschen in der Welt der Ebene, die durch eine Mauer getrennt sind, wird eine neue Dimension aufgemacht, eine, die nicht vermauerbar ist. In der Musik war eine Freiheit enthalten, die unsere Kantorei zu DDR-Zeiten stark prägte. Genauer gesagt: in der Kirchenmusik. Die Freiheit, von der der Chor singt, ist eine andere als die Abwesenheit von Mauern, es ist die Freiheit des Bachchorals, der gleich gesungen wird: „Durch Dein Gefängnis, Gottes Sohn, muss uns die Freiheit kommen!“ Vom Grunde des herberthildebrandtschen Verständ-nisses her ist das die elementare Freiheit des Christenmenschen. Das darf gerne auch politisch verstanden werden, die eigentliche Basis ist eine andere. Vielleicht waren es nicht die musikästhetischen Sternstunden unserer Kantorei, wenn diese Freiheit im drängendsten Fortissimo daherkam, aber, wer das gesungen oder gehört hat, wird sich vielleicht an ein wenig Gänsehaut erinnern. Und diese in der Kirchenmusik enthaltene Freiheit, die mit Singen so mühelos zu verkündigen war, hatte ihren eigenen Imperativ, von Herbert Hildebrandt ganz klar transportiert: Wir singen nicht für uns, wir treten nicht auf, weil wir schöne Stimmen haben oder laute, oder einen akkuraten Krawattenknoten, wir haben auch eine Verkündigungsverpflichtung. So haben wir in den Domgottesdiensten gesungen, sind in entlegene Brandenburger Dörfer gefahren für die Adventskonzerte des A-cappella-Chores, haben in Krankhäusern gesungen. Das gehörte ganz selbstverständlich dazu, heute würde man sagen: das war „Teil des Deals.“
Chorsingen ist nicht so ganz von dieser Welt.
Das betraf auch die Transformation, die mit Herbert Hildebrandt vor sich ging, wenn Aufführung war. Der Mann mit dem linkischen Charme – so schrieb Gilbert Furian vor einer Woche in der Kirchenzeitung – wurde zu einem Vulkan. Da flog die Brille nicht nur einmal im Eifer des Dirigats von ihrem angestammten Platz, die Musiker verabredeten sich, das Notenpult des Konzertmeisters außer Reichweite der Armbewegungen zu stellen, insgesamt so ein bisschen Risikomanagement zu betreiben. Ich möchte das gerne verstehen als Ausdruck der nicht beschränkten, nicht beschränkbaren Freiheit, die eben durch die Musik eröffnet wurde. Wahrscheinlich werden in vielen Chören Zitatensammlungen der Chorleiter angelegt – wenige dürften so ergiebig sein wie die unsere. Erst letzte Woche fand sich in einem alten Klavierauszug der Johannespassion dieses: „Wenn Sie im Sopran diesen Ton nicht ansummen können, gehen Sie in den Alt oder in den Malzirkel!“. Immerhin – da ist eine Beratungskomponente enthalten….
Chorsingen ist nicht so ganz von dieser Welt.
Über vier Jahrzehnte hat Herbert Hildebrandt unsere Kantorei geleitet, sie geprägt. Ob man nun nur ein wenig dieses Zeitraums mit dabei war, oder viele Jahre, oder alle, ob man zu denen gehört, die zeitweilige Partnerschaften in der Kantorei gefunden haben, oder ihre Familien, oder lebenslange Freundschaften, oder ob man einfach im musikalischen Leben der Kantorei diese Lichtpunkte des Lebens gesammelt hat, die sich dem einfachen Vergehen der Zeit entgegenstellen – wir verdanken Herbert Hildebrandt, dass unser Leben reicher geworden ist. Er selber mit seiner natürlichen Bescheidenheit hätte das weit von sich gewiesen, aber es bleibt wahr.
Am vierten Advent standen einige Sänger der Kantorei um das Bett in der Intensivstation im UKB Marzahn und sangen – wie vorhin hier – was Paul Gerhardt gedichtet hat: „Ich lag in tiefster Todesnacht“. Und sie kam, die Nacht des Todes. Sein letztes Kirchenmusikprojekt konnte Herbert Hildebrandt nicht mehr vollenden. Das war, wie seit etlichen Jahren, die Christvesper am Heiligabend in Ihlow in Brandenburg, dort, wo seine Nichte Frauke mit ihrer Familie lebt. Der Schlusspunkt dort – so hatte Herbert Hildebrandt es geplant – war, nach dem Segen eine letzte Strophe zu singen, einen Choral aus dem Weihnachtsoratorium, auch eine Dichtung von Paul Gerhardt, wir kennen ihn alle. Sie sagt uns, dass die Todesnacht nicht das letzte Wort hat: „Mit Dir will ich endlich schweben, voller Freud‘, ohne Zeit, dort im andern Leben.“
Chorsingen ist nicht so ganz von dieser Welt, ganz besonders nicht in der Berliner Domkantorei von Herbert Hildebrandt.
Mit traurigen Herzen, aber voller Dankbarkeit, nehmen wir von ihm Abschied.