Interview mit Pater Anselm Grün

Gespräch mit Pater Anselm Grün zu „Demut: Was zügelt uns?“

„Der Benediktiner-Pater Anselm Grün ist in ein deutschlandweit bekannter Autor. Seine Bücher zu spirituellen Themen und sein Wirken als geistlicher Berater und Kursleiter für Meditation und Managertrainer finden über alle konfessionellen Grenzen hinaus eine starke Resonanz. Unser Domgemeindeglied Hannelore Herlan hat Anselm Grün in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach besucht und mit ihm am 21. Februar ein exklusive Interview für den DomBlick geführt.

HH: Pater Anselm, Demut ist ein schillernder Begriff, daher zunächst: Was bedeutet Demut für Sie?

PAG: Demut kommt aus dem Lateinischen „humilitas“ und ist mit „humus“, also Erde, zusammengehörig. Das heißt, Demut und Erde sind miteinander verwandt. Für mich ist Demut der Mut, in die Tiefen meiner eigenen Seele hinabzusteigen und all das, was in mir ist, zu akzeptieren. Ich könnte auch sagen, Demut ist, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, nicht abzuheben, immer zu wissen, dass ich Mensch bin. Demut ist vor allem eine religiöse Tugend, und je näher man Gott kommt, desto mehr braucht es die Demut, damit man Gott nicht für sich vereinnahmt. Die Demut zeigt uns, dass wir für den Glauben dankbar sein sollen und hilft uns immer zu wissen, dass wir Menschen sind, die Zweifel, Fehler und Schwächen haben.

 

HH: „Humilitas“ ist auch der „untere Weg“, den Jesus genommen hat. Sie als Benediktiner leben in der Nachfolge Christi diesen Weg. Wie sieht Ihr Alltag aus, wie formt ihn die Demut?

PAG: In der Regel des Heiligen Benedikt ist Demut etwas ganz Zentrales, sie beschreibt die 12 Stufen der Demut, man könnte auch sagen, die 12 Stufen wachsender Gottesbegegnung und wachsender Selbstwerdung. Je mehr wir die eigene Wahrheit erkennen, desto demütiger werden wir. Konkret sichtbar drückt sich für uns Mönche Demut in unserem Chorgebet aus, so, wenn wir uns beim „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist“ tief verneigen. Diese Verneigung ist eine demütige Geste und bezeugt, dass Gott groß ist und wir uns vor ihm beugen und ihn anbeten. Demut ist aber auch immer dann gefragt, wenn ich innerlich über einen anderen Menschen urteilen möchte; dann heißt Demut, auch ich bin nur ein Mensch und es steht mir nicht zu, mich über andere zu stellen.

 

HH: Auch im Alltag außerhalb eines Klosters ist Demut die zentrale christliche Tugend, und „wo die Demut nicht ist, ist auch Gott nicht“. Wie lernt ein Mensch demütig zu sein (sofern man das lernen kann) oder wie entsteht Demut?

PAG: Demut hat immer mit Selbsterkenntnis und mit Dankbarkeit zu tun. Zu spüren, was wir an Aschermittwoch hören: „Vom Staub bist du genommen und zum Staub kehrst du zurück“, und bei allen spirituellen Erfahrungen, die wir machen immer zu merken, dass wir zerbrechliche Menschen mit Fehlern und Schwächen sind, das ist Selbsterkenntnis. Das ist die religiöse Dimension von Demut, die aber durchaus auch ein weltlicher Begriff ist. Beispielsweise kenne ich einen Psychologen, der sich mit Demut in Unternehmen beschäftigt. Ein Unternehmer, der große Autorität hat, ist immer in Gefahr sich zu überheben und abzuheben; Demut hilft ihm, auf dem Boden zu bleiben, gerade im Umgang mit Angestellten. Das menschliche Miteinander braucht Demut. Man erkennt intuitiv, ob eine Führungskraft demütig ist, ob sie noch weiß, dass sie Mensch ist, oder ob sie so mit der Rolle und Funktion verschmolzen ist, dass sie keine Augenhöhe wahrt.

 

HH: Sie leiten auch Seminare für Führungskräfte. Spielt Demut darin eine Rolle, ist sie womöglich ein „soft skill“?

PAG: Durchaus, gerade im Umgang mit Mitarbeitern. Wenn ich beispielsweise jemanden kritisieren muss, darf das nicht von „oben herab“ geschehen, sondern sachlich und ruhig. Benedikt sagt, gerade wenn ich Macht habe, braucht es die Demut als Gegenpol, sonst wird die Macht zur Gefahr. Das ist in Unternehmen so, aber auch bei uns im Kloster: Wenn der Abt einen von uns kritisieren muss, dann soll er es in dem Wissen tun, dass auch er Mensch ist. Jede Führungskraft sollte sich der eigenen Gebrechlichkeit bewusst sein.

 

HH: Wie wächst Demut? Welche Rolle spielt das Schweigen?

PAG: Schweigen ist für die Mönche eine zentrale spirituelle Übung. Der erste große Schritt des Schweigens ist die Selbstbegegnung, da kommen alle möglichen Gedanken hoch, das ganze Chaos, das in der Seele ist; es bedeutet demütig sein, sich alles anzuschauen und nicht zu verdrängen. Der zweite Schritt ist, Abstand von diesen Gedanken zu bekommen und der dritte Schritt, eins zu werden mit Gott. Aber auch wenn nach christlicher Mystik das Ziel die Einswerdung ist, bleiben wir Mensch und werden nicht zu Gott. Der brennende Dornbusch ist hierfür ein schönes Bild: er ist eigentlich wertlos, vertrocknet, wird schnell übersehen, und doch brennt er. Aber, wenn er brennt, verbrennt er nicht, sondern bleibt, was er ist. Wenn der Mensch eine spirituelle Erfahrung macht, leuchtet das Feuer Gottes in ihm, aber er bleibt Mensch, er bleibt der Dornbusch. Die Spannung Mensch – Gott auszuhalten, das ist Gotteserfahrung.

 

HH: Welche Hilfen gibt es für mich im Alltag, meine Demut zu befördern?

PAG: Schweige-Exerzitien sind sehr gut, doch im Alltag kaum durchführbar. Aber Sie können sich zu Ritualen zurückziehen. Rituale schaffen eine heilige Zeit, die nur einem selbst gehört, wo ich mit mir selbst in Berührung komme und auch mit Gott. Ein wichtiges Ritual ist, am Abend meinen Tag Gott hinzuhalten, mit geöffneten Händen und ohne das Tagesgeschehen selbst zu bewerten. Viele Menschen kommen am Abend nicht zur Ruhe, weil Gedanken sie quälen und sie Situationen nachsinnen, in denen sie sich nach eigener Beurteilung nicht optimal verhalten haben. Aber es ist, wie es ist, und es ist wichtig, alles Gott hinzuhalten in dem Vertrauen, dass er es in Segen verwandelt.

Es gibt noch andere Hilfen und demütige Gebärden, um sich zu sammeln und auf Gott auszurichten, beim Gebet beispielsweise das tiefe Verneigen oder das Knien. Für uns Mönche ist auch die Prostratio wichtig, das ausgestreckte Sich-Niederwerfen, in der man sich in Gottes Hände fallen lässt. Und das ist das Paradox: Indem man sich klein macht, fühlt man sich getragen von Gottes Hand.

 

HH: Was der HERR von uns fordert ist, „nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6). Jesus hat uns zudem das Doppelgebot der Liebe gegeben. In einer multikulturellen Gesellschaft gibt es viele Lebensstile, Religionen und Atheismus. Gilt das Postulat des demütig-liebenden Umgangs für alle zwischenmenschlichen Begegnungen?

PAG: Ja, das schon. Demut hat auch immer mit Respekt zu tun und mit Offenheit für das Geheimnis des anderen, ohne sich über ihn zu stellen oder ihn innerlich zu beunruhigen. Es gibt eine Ursehnsucht des Menschen, zur Ruhe zu kommen. Im Matthäus-Evangelium lehrt uns Jesus: „Lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ Für die zwischenmenschliche Beziehung heißt Demut, uns auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Wir sind ja immer so schnell in Gefahr, uns zu vergleichen, wer besser und intelligenter ist, und das beunruhigt – Demut vergleicht nicht.

 

HH: Was machen wir mit völlig anderen Wertvorstellungen und Lebenskonzepten? Als Christen haben wir auch einen Auftrag.

PAG: Natürlich, Demut heißt für uns Christen auch, zu sich zu stehen und dankbar zu sein für die eigene christliche Tradition und den eigenen christlichen Glauben. Das geht einher mit der Offenheit dafür, wie andere sich selbst und auch Gott erfahren. Und auch wenn wir von Christus den Auftrag haben, den Glauben weiterzugeben und uns nicht zu verstecken, sollen wir nicht mit Gewalt überzeugen wollen. Zur Demut gehört durchaus auch das Vertrauen, dass mein Glaube menschenfreundlich ist und für Andere ein gutes Angebot sein könnte.

 

HH: Lassen Sie uns in die Welt blicken. Die Politik ist den Menschen und der Umwelt verpflichtet, doch leben wir in kritischer Zeit. Viele politisch Mächtige sind eher dem Stolz verfallen und keine Hoffnungsträger. Kann es so etwas geben wie „demütige Politik“, die die Hoffnung wiederherstellt?

PAG: Demütige Politik heißt ganz sicher Sorgfalt im Umgang mit der Schöpfung, da wir alle aus dem EINEN sind. Lukas sagt, Gott hat aus dem Einen das ganze Menschengeschlecht geformt. Viele Exegeten meinen, aus einem Menschen. Doch Lukas spricht nicht von einem Menschen, sondern für die Griechen war das EINE wichtig, der Kosmos und der Sternenstaub, aus dem alles, auch wir Menschen, geschaffen sind. Wenn das so ist, so sind wir Menschen im Tiefsten eins mit der Schöpfung. Auch diese Erkenntnis ist demütig. Insofern ist demütige Politik, dass wir Verantwortung haben für alle Völker.

„America First“, das ist das Gegenteil von Demut, genauso wie Parolen „vom deutschen Wesen“, von dem die Nazis geschwärmt haben und es jetzt ähnlich wieder zu hören ist. Es ist Hochmut, wenn ein Volk sich über die anderen stellt. Demut heißt, dass wir dankbar sind für unsere Stärken, aber dass wir im Zusammenführen der unterschiedlichen Stärken die Welt gemeinsam organisieren sollen. Für jeden Politiker bedeutet demütig sein, der Versuchung der Macht nicht zu erliegen. Macht ist eigentlich positiv, da sie die Möglichkeit zum Gestalten gibt. Leider zeigt die Erfahrung, dass Macht auch immer eine Falle sein kann, wenn Menschen ihr mangelndes Selbstwertgefühl damit ausgleichen.

 

HH: Verantwortungslosigkeit finden wir auch mitten in unserer Gesellschaft, beispielsweise bei den Klimawandel-Leugnern oder den „Wutbürgern“, die sich in rechtsradikalen Zirkeln und Parteien zusammenschließen und nach der Macht greifen. Was zügelt ihre Wut, und welche Rolle kann Religion und Kirche dabei spielen?

PAG: Die Kirchen haben sicherlich die Aufgabe, ein Sauerteig der Versöhnung zu sein für die Gesellschaft; sie müssen die Hoffnung aufrechterhalten. Die von Ihnen so genannten „Wutbürger“ haben auf der einen Seite eine Zuschauermentalität: sie übernehmen selbst keine konstruktive Verantwortung, sondern kritisieren die, die Verantwortung übernommen haben, und wissen alles besser. Zum andern haben sie infantile Vorstellungen von der Gesellschaft, nämlich, dass jeder individuelle Wunsch absolut umsetzbar ist – wohingegen jeder Politiker weiß, dass gesellschaftliche Gestaltung immer Kompromisse braucht. Es sind hauptsächlich die infantilen Vorstellungen vom Leben, denen wir als Kirche mit unserer Vorstellung von Demut entgegentreten müssen. Wir müssen mit beiden Füßen auf der Erde stehen und dürfen nicht illusionären Sprüchen nachfolgen. Manch einer verheißt das Paradies, doch es dient nur zur Durchsetzung der eigenen Wünsche und Ideen.

 

HH: Ist Ethik wichtiger als Religion? Dem Appell des Dalai Lama folgen viel Humanisten und fordern eine säkulare Ethik anstelle Religion.

PAG: Auch Hans Küng hat in den 1990er Jahren das Projekt „Weltethos“ initiiert, aus der Überzeugung heraus, dass das friedliche Miteinander der Menschen sich nur auf der Basis einer religionsübergreifenden Ethik aufbauen lässt. Es ist sicher wichtig, dass sich Religionen auf Ethik und gemeinsame Werte besinnen. Eigentlich sind sich die Werte der verschiedenen Religionen zumeist ähnlich, die Sprache etwas anders, doch es gibt eine Verbindung, sodass die Welt gemeinsam gestaltet werden kann. Aber man darf Religion nicht auf Ethik reduzieren. Das geht an den tiefen spirituellen Bedürfnissen der Menschen nach Gotteserfahrung und Liebe vorbei. Religion sollte beides sein, ein Ort bewussten Lebens ethischer Werte in Gemeinschaft und ein Ort der Gotteserfahrung. Schon in der Aufklärung wurde die Kirche zur moralischen Verbesserungsanstalt degradiert, doch Glaube ist wesentlich mehr als Moral. Die Frage nach dem „Was bringt das?“ ist im Zusammenhang mit Religion und Glaube falsch, weil sie ist eine Verkürzung von Religion, auch von Demut ist: Gott ist größer, Gott ist nicht vereinnahmbar.

 

HH: Wir haben über die Wutbürger gesprochen, doch sind wir Menschen alle verführbar.  Die Konsumwelt bietet jeden Tag Neues und alles wird immer billiger, Nahrungsmittel, Kleidung, Urlaubsflieger; und es wird zügellos konsumiert, auf Kosten der Schöpfung. Pater Anselm, im Angesicht des Kreuzes, was zügelt uns?  

PAG: In der christlichen Tradition war die Askese immer etwas Wichtiges. Benedikt spricht vom einfachen Leben und auch vom Verzicht, und so kann die Fastenzeit ein wichtiges Training für innere Freiheit sein. Solange der Mensch von Bedürfnissen bestimmt wird, ist er nicht frei. Jesus sagt, das Reich Gottes ist in euch. Das heißt für mich, wenn Gott in mir herrscht, dann werde ich nicht beherrscht von den Erwartungen der Menschen und auch nicht beherrscht von meinen eigenen Bedürfnissen. Unsere Gesellschaft ist von Gier geprägt. Die Gier ist eigentlich die Unfähigkeit zu leben und auch Weniges zu genießen. Insofern ist das Maßhalten, das Zügeln, ein wichtiger Weg zum gelingenden Leben.

Und das Kreuz selber hat verschiedene Aspekte: es ist ein Bild der Versöhnung, es erinnert uns daran, uns mit uns selbst und auch untereinander zu versöhnen. Das Kreuz ist die Vollendung der Liebe. Jesus liebte die Seinen bis zur Vollendung, denn es gibt keinen größeren Liebesbeweis als sein Leben hinzugeben für seine Freunde. Das sollte auch ein Lebensprinzip für uns sein, dass wir der Liebe mehr trauen als dem Hass. Das Kreuz ist für alle der Sieg der Liebe gegen den Hass der Welt.

 

HH: Pater Anselm, ich danke Ihnen.

 

Das Gespräch führte Hannelore Herlan im Auftrag des Berliner Doms; 21. Februar 2020

 

 

 

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